Es krabbelt metallic-grün am Straßenrand. Ein Laufkäfer, ein Puppenräuber hat sich auf der Landstrasse nach Glatz/Klodzko auf den Weg gemacht. Seine Chancen den anderen Straßenrand lebend zu erreichen sind recht gut, denn zu den "Premium-Reisezielen" gehört die Grenzregion zwischen dem schlesischen Polen und dem mährischen Tschechien nicht. So bleiben denn auch in der Hochsaison die Blechlawinen klein. Ohne zu branden, sickern sie sanft in ein mehr als 150 km langes Freiluftmuseum aus Schlössern und Klöstern ein. Die niederschlesische Mittelgebirgswelt erweist sich zudem als mehr pittoresk als schweißtreibend und so sind die Hauptzutaten für das Geheimtipp-Prädikat auch schon zusammen.
Die Tour beginnt in Polanica Zdroj/Bad Altheide, einem der altbekannten Kurorte des Glatzer Berglandes. Kurpark, Kurhaus, Konzertmuschel und Besucher präsentieren sich in permanent feiertäglicher Herausgeputztheit. Am Tag zuvor hat die Bahn von Wroclaw/Breslau aus schon sehr viele Höhenmeter überwunden, so dass die Route über die Quartierorte Paczkow/Patschkau, Glucholazy/Ziegenhals (polnisch), Krnov/Jägerndorf und Hradec/Grätz (tschechisch) zwar nicht steigungsfrei, aber insgesamt doch abschüssig verläuft.
Klodzko/Glatz ist das erste Highlight der Tour. Wahrzeichen sind nicht nur das Rathaus nebst Renaissance- und Barockhäusern, sondern die alles überthronende Festung. Sie wurde von Friedrich II. nach seiner Eroberung Schlesiens in ihrer jetzigen Form angelegt. Der ganze Berg ist ein einziger Termitenhügel aus Gängen, Tunneln und Katakomben, die irgendwie der Verteidigung dienlich gewesen sein sollen. Mit einem saloppen "Goog-Luck" deutet die Untertage-Führerin auf den nicht nur tiefsten, sondern mit 90 cm auch niedrigsten Tunnel im ganzen Berg. Ein Stau im Watschelgang tief unter der Erde und fernab jeden Lichtes ruft Spannung hervor. Klaustrophobiker sollten die extra angebotene Tunnelführung daher besser meiden. Mit der Festung ist auch der Name des Andreas Faulhaber verbunden. Der Geistliche wurde 1757 vom preußischen Festungskommandanten angeklagt, unter dem Vorwand der Beichte Soldaten zur Fahnenflucht angestiftet zu haben. Er wurde in die Festung geworfen und gehängt, ohne begraben werden zu dürfen, zur Abschreckung. Erst 1760 wurde er vom Galgen abgenommen und beerdigt, nachdem österreichische Truppen des Generals Laudon Glatz besetzt hatten. Trotz der zweieinhalb Jahre Galgen war der Leichnam aber nicht verfault. Kaiserlich-österreichische Beamte sollen dieses Phänomen ausdrücklich bescheinigt haben.
Weiter geht es tannenbewaldeten Hängen entlang und nach kräftigen aber überschaubaren Tretanstrengungen aussichtsreich über sie hinweg. Auch kleine Flussläufe geben immer wieder den Weg vor. Die in Polen entspringenden Rinnsale bringen ihr Wasser in die Nord- und Ostsee, die tschechischen in die Nordsee. Über den Wallfahrtsort Bardo und das barocke Zisterzienserkloster Kamenz/Kamieniec wird Patschkau/Paczkow erreicht. Es hat sich den nicht ganz unbescheidenen Beinamen "Schlesisches Rothenburg" verpasst. Wenn auch der Vergleich wegen der stark witterungsgebeizten Fassaden doch etwas hinkt, so ist die intakte Stadtmauer mit ihren 13 markanten Wehrtürmen doch eine Sehenswürdigkeit für sich. Unmittelbar vor der Stadtmauer an der "Wojska Polskiego" liegt ein schmuckes Fachwerkhaus, das "Henkerhäuschen". Hier residierte über Generationen hinweg der wohl beliebteste Bürger der Stadt. Wenn man bedenkt, dass die ummauerte Altstadt gerade man 2-3 km2 groß ist, dürfte er wohl jeden seiner "Klienten" gut nachbarschaftlich gekannt haben. In dem Cafe am Marktplatz gibt es die beste heiße Schokolade weit und breit.
Der nächste Tag führt über die grüne Grenze hinein vom polnischen ins tschechische Sudetenland, nach Javornik. Wie eine rotlackierte Kommode thront die ehemalige Residenz der schlesischen Bischöfe über der Stadt. Im Gasthaus "Taverna" kann man mit polnischen Zlotys bezahlen.
Die Landschaft ändert sich allmählich. Die Wälder lichten sich, die Berge verflachen und es gibt weite Blicke in Tiefebenen hinein. Zwischen Kornackern spießen auch hier die Zwiebelkirchtürme hervor. Pflaumenbäume und Mirabellensträucher säumen den Straßenrand. Es sind biologische Raststätten. In den Ortschaften fordern geklebte Gesichter zum Vertrauensvorschuss an Wahlurnen auf. Es sind die mährischen Sudeten. Schattenspendende Baumalleen gibt es hier weniger. Mehr Schatten wirft dagegen die jüngere Vergangenheit. Hier gab es 1945 die wildesten Vertreibungen. Anders als im westlich benachbarten böhmischen Teil, wo es eine klare Sprachgrenze gab, sprenkelten hier viele deutsche Dörfer als kleine Inseln in tschechisches Gebiet hinein, so dass sie die Vergeltung für Hitlers Größenwahn gleich von allen Seiten zu spüren bekamen. Original restaurierte Gefallenendenkmäler in den Dörfern und die deutsch beschrifteten Christuskreuze am Straßenrand deuten auf die zunehmende Vernarbung der gemeinsamen Geschichte hin. Nicht selten hängen in älteren Gasthäusern wieder angegilbte Bilder aus deutscher Zeit.
Hinter Vidnava/Weidenau ist die Grenze besonders grün. Die nordöstliche Ausfallstrasse verwandelt sich alsbald in einen Feldweg und führt an einem kleinen Schilfsee vorbei. Der Blick bleibt an Libellen und Schreitjägern, den Graureihern, haften. Nur weinige hundert Meter weiter steigt der Weg über eine Wiese an und, die Bierreklame verrät es schon bald, man ist wieder in Kalkow, in Polen.
In den nächsten Tagen häufen sich die grünen Grenzübertritte. Der tschechische Ort Osoblaha hieß früher Hotzenplotz und hat dem im Sudetenland geborenen Kinderbuchautor Ottfried Preußler in der Tat als Namenspatron für seine wohl bekannteste Romanfigur gedient. Von hier aus schlängelt sich die bereits 1894 eröffnete Schmalspurbahn eine Dreiviertelstunde lang durch die Berglandschaft. Rechtschaffen ermattet darf man bis Třemesná ve Slezsku, ehemals Röwersdorf, steile Auen an sich vorbei ziehen lassen und so ganz nebenbei wieder ein paar nützliche Höhenmeter überwinden. Es ist übrigens die letzte heute noch lebende Schmalspurbahn in Tschechien.
Die Städte Krnov/Jägerndorf und Opava/Troppau sind die Metropolen der Tour, Perlen der Arkaden und Stuckfassaden. In Opava ist eine Speiserast auf dem Platz "Dolni namesti" angezeigt. Hier präsentiert sich die einheimische Küche in gemütlichen Bierlokalen mit Blick auf das architektonische Flagschiff der Stadt, die hochbarocke Jesuitenkirche Sv. Vojtecha. Der Gründer der Humangenetik Johann Gregor Mendel studierte, der Erfinder der Farbfotografie Karl Schinzel lebte hier.
Die Etappe nach Hradec/Grätz setzt noch einmal kraftvolle Schlusspunkte. Ein schöner Radweg führt an dem idyllischen Morava-Fluß entlang. Bei dem weißen Wehrhäuschen führt eine Treppe nach unten und man kann bis zu den Knien im plätschernden Wasser herumwaten. In Hradec thronen 3 Schlösser auf ein- und demselben Berg. Ein weißes im klassizistischen Empire-Stil, das an einsame baltische Herrenhäuser erinnert, ein neogotisch historisiertes Schloss aus dem 19. Jahrhundert und eine gotische Burg mit wuchtigem Hauptturm aus dem 13. Jahrhundert. Im dreißigjährigen Krieg gab es hier eine Falschmünzerei, später verschlug es immerhin Ludwig van Beethoven und Franz Liszt hierher. Das Blättern im Reiseführer verrät die übliche Vita aus Verpfändungen und Übereignungen von einem römisch nummerierten Vornamen zum anderen, Neuigkeiten im Detail aber nicht en gros. Bis zum wieder polnischen Raciborz sind es noch ca. 35 km. Eine letzte Übernachtung in Hradec ist also einmal angesagt.
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